Natur zum Anfassen: Wald bis in die Zehenspitzen fühlen
Wald, Berge, die Natur im Allgemeinen lässt sich auf viele Arten erleben. Die beliebteste ist sicherlich die sportliche Variante des draußen-Seins. Auf dem Mountainbike trailauf, trailab, in Bergschuhen bis zum Gipfelkreuz, leichtfüßig durch dichte Wälder und sich auf Passstraßen den Hang hinauf schlängeln – immer mit einem Ziel vor Augen, sei es nun die Alm, der Bergsee, der Pass, der Gasthof. Was aber, wenn man das Sprichwort „Der Weg ist das Ziel” auch mal auf das Naturerlebnis anwendet? Oder … was, wenn es mal gar keinen bestimmten Weg gibt?
Geben wir es zu: Jeder von uns hat das schon länger nicht mehr gemacht – die Natur langsam und bewusst und mit allen Sinnen in sich aufgenommen. Vielleicht haben wir vergessen, wie gut das tut? „Barfußgehen ist ein stark achtsamkeitsförderndes Element, welches eine gesunde und heilsame Verbindung zwischen Mensch und Natur erzeugt”, sagt das Internet. Wie aber fühlt sich das an? Ach ja, und „Waldbaden” ist derzeit ohnehin in aller Munde. Zu Recht? Ist das wirklich so wohltuend? Wer könnte diese Fragen besser beantworten, als jemand der beides ausprobiert hat?
Barfußwandern
Einmal „unten ohne” – Auf leisen Sohlen von Maria Weißenstein nach Deutschnofen
Alexander Bisan ist ausgebildeter Wanderleiter, Trainer für wertschätzende Kommunikation, Sexual- und Erlebnispädagoge und überzeugter Barfußläufer. Gerne begleitet er Kinder, Jugendliche und Erwachsene auf bloßen Füßen durch die Wälder des Eggentals.
„Wir kommen ohne Schuhe auf die Welt. Unsere Füße sind zu dem Zeitpunkt vorne am Ballen und an den Zehen noch recht breit geformt, die Zehen sind zudem beweglich – Babys können ihre Zehen noch sehr gut spreizen! Das hat auch seinen Grund.” Eine Übung soll das erklären. Zum Einstieg in unsere ca. 3-stündige Wanderung von Maria Weißenstein bis Deutschnofen spreizen wir also unsere Zehen, so dass der große und der kleine Zeh so viel Abstand wie möglich voneinander haben. Und dann stehen wir auf diesem einen Bein. Es klappt eigentlich recht gut, mit dem Gleichgewichthalten. Nun aber, beim zweiten Versuch, pressen wir die Zehen ganz eng zusammen, machen also einen ganz spitzen Fuß, so, wie er in Schuhen immer geformt ist. Und wieder versuchen wir, auf einem Bein zu stehen. Wir wackeln und rudern mit den Armen, um die Balance zu halten. Es klappt nicht. „Über die Jahre, in denen unsere Füße in Schuhen stecken, formen wir sie. Wir verlieren an Standhaftigkeit, im wahrsten Sinne, können die Balance nicht mehr so gut halten. Fast 60 Prozent der alten Menschen haben Probleme mit den Beinen. Ich bin der absoluten Überzeugung, dass mehr Barfußgehen dem vorbeugen könnte. Und nicht nur!” Die Spannung bleibt in der Luft hängen, denn jetzt machen wir uns erstmal auf den Weg.
Kies ist für den Einstieg in eine Barfußwanderung eine Herausforderung! Aber schon berühren meine Fußsohlen weichen, warmen Waldboden, den der Regenguss der Nacht ordentlich aufgeweicht hat. Wiese fühlt sich gut an, an den Füßen. Es regt sich eine Art kindliche Begeisterung in mir und wir wagen uns in eine Pfütze. Ich blicke auf meine schmutzigen Zehen, die fröhlich wackeln und im feuchten und kühlen Schlamm herumbohren. „Barfuß wandern macht glücklich!”, sagt Alexander. Und er hat recht: Barfußwandern ist Schlammbad, Kneippkur und Reflexzonenmassage. Und fühlt sich sehr schnell schon sehr gut an.
Alexander selbst ist fast das ganze Jahr über barfuß unterwegs. Er zieht Schuhe eigentlich nur aus wärmenden Gründen an – in den Wintermonaten. „Barfußwandern beugt Fußschäden vor, verbessert unsere motorischen Fähigkeiten und kräftigt Muskeln, Bänder und Gelenke. Es fördert die Durchblutung und härtet ab. Irgendwann gewöhnt man sich daran! Man merkt das Fehlen von Schuhen gar nicht mehr.”
Und es stimmt schon. Nach einer guten Stunde blicke ich nicht mehr so fixiert auf den Boden, denke nicht bei jedem Tritt nach, wohin ich die Füße setze. Irgendwie läuft das Gehen jetzt schon unbewusster, wenn auch langsamer als sonst. Und irgendwie scheint mir, dass man nicht nur den Boden unter den Füßen intensiver wahrnimmt! „Wir haben 1.700 Nervenenden an den Fußsohlen. Wenn die über Jahre hinweg nicht stimuliert werden, verkümmern sie immer mehr. Und je mehr diese Nervenenden verkümmern, desto höher ist das Risiko, an Altersdemenz zu erkranken. Das ist bewiesen! Altersdemenz, Gleichgewichtsstörungen und Hüft- und Rückenbeschwerden kommen unter anderem von lebenslangen Schuhe Tragen! Aber … widmen wir uns doch einem schöneren Thema”. Alexander zeigt auf die Landschaft rundum.
Denn außer, dass man beim Barfußwandern – und davon bin ich schon auf halbem Wege absolut überzeugt – etwas für die eigene Gesundheit tut, tut das Barfußwandern im Gegenzug etwas mit dem eigenen Gemüt. Als wir nach einer wunderschönen Wiesenquerung über Moos und feuchte Sumpfflächen wandern und sich, als wir eine Anhöhe erreichen, uns weite Nadelwaldflächen wortwörtlich zu Füßen legen, fühle ich mich schon sehr verbunden mit meiner Umgebung. „Möchtest du die Schuhe jetzt wieder anziehen, beim kurzen Abstieg zur Hütte?” „Nein.” sage ich bestimmt und steige munter in den Kiesweg ein.
Waldbaden
Wenn man am liebsten die Welt umarmen möchte, tut es häufig auch ein Baum
Georg Kirchmaier ist Waldpädagoge, Referent am Ausbildungszentrum für Forst, Jagd und Umwelt „Latemar“, Ex-Manager im Medienwesen und liebt die Natur. Georg Kirchmaier lädt zum Erforschen und Entdecken des Lebensraumes Wald mit Kopf, Herz und Hand ein.
„Wenn wir uns Südtirol mal von oben ansehen könnten, also aus der Flugzeugperspektive, wir würden uns wundern, wie viel Wald wir eigentlich haben!” Er kennt den Wald hier gut, es ist ein ganz besonderer Wald, sagt er. Und gleich darf ich darin baden. Ich wusste zu Beginn selbst nicht so genau, was ich mir darunter vorstellen sollte. Aber ich habe recherchiert: Waldbaden, das kommt eigentlich aus Japan. Das japanische Landwirtschaftsministerium führte Shinrin-yoku schon Anfang der achtziger Jahre ein und förderte ein millionenschweres Forschungsprogramm, um die medizinische Wirkung des Waldbadens nachzuweisen. Vor zwölf Jahren eröffnete dann das erste Zentrum für "Waldtherapie", und japanische Universitäten bieten inzwischen eine fachärztliche Spezialisierung in "Waldmedizin" an.
„Dass der Wald uns gut tut, war immer schon klar. Nur WIE gut er uns wirklich tut, das hat überrascht”, sagt Georg. Jetzt kann man das beweisen, wissenschaftlich belegen. Und der Mensch traut eben nach wie vor lieber Fakten als dem Gefühl. Heute jedoch geht es um Letzteres.
Wir bewegen uns – in ein Gespräch über die neue Sehnsucht Wald vertieft – auf die dicht beisammenstehenden Bäume zu. „Das Waldbaden beeinflusst das autonome Nervensystem, das Hormonsystem und das Immunsystem. Um den Effekt des Waldes medizinisch nachmessen zu können, werden beim Waldbaden häufig zwei Sensoren auf Schulter- und Brusthöhe angebracht, die die Daten während des Waldbadens sammeln. Ich möchte es heute deinem Gefühl überlassen, ob du dich tatsächlich anders fühlst in gewissen Situationen oder bei bestimmten Übungen.” Und dann sind wir mittendrin, im Wald, und alle Geräusche von außen scheinen wie verschluckt. Diese Wald-Welt ist eine ganz eigene, ein in sich geschlossenes System.
Das Licht fällt durch die Nadelbaumkronen. „Hier lebt ein Eichhörnchen.” Georg hebt einen deutlich angeknabberten Zapfen vom Boden. „Und darunter die Mäuse, die auf das warten, was die Eichhörnchen fallen lassen.” Er zeigt auf ein paar Löcher unter den Baumwurzeln. „Es ist tatsächlich alles in Symbiose. Wir haben es nur vergessen.”
Wir gehen. Konzentrieren uns auf unsere Schritte. Wir atmen, ganz bewusst. Wir sind da und fühlen hin. Wir berühren Bäume und gehen mit ihnen in eine innige Umarmung. Wir schließen unsere Augen und konzentrieren uns aufs Spüren, sind ganz im Einklang mit der Natur. Die Bäume, so Georg, deuten auf Kraftplätze hin. Es gibt belebende Plätze, wo man neue Energie tanken kann und natürlich auch Orte, an denen man totale Entspannung findet. „Das ist im Grunde, wenn man sich erstmal auf die Thematik eingelassen hat, alles gar nicht so schwer zu verstehen, es ist Geobiologie.” Und wirklich: Der Wald hat zwar immer eine magische Wirkung auf mich, aber ich gebe zu, dass ich heute nochmal mehr eintauchen kann, in dieses dunkelgrüne Universum. Es ist … anders und Georgs Enthusiasmus schwappt auf mich über. Man muss tatsächlich kein Wissenschaftler sein, um zu verstehen, was ein langsames Sein im Wald mit einem macht. Aber die Fakten zum Gefühl erklärt zu bekommen, liefert mir so manchen Aha-Effekt. Und garantiert viele Aaaaah-Effekte mit A, wie angenehm.